Unbekannter Hersteller „Kleines Doppeltisch-Spinnrad“
Manchmal sehe ich schon auf den ersten Blick die verborgene Schönheit eines alten Rades – und das, obwohl sie sich gut unter uralten, matten Schmutzschichten und hinter defekten Kleinteilen zu verbergen sucht. Bei diesem kleinen Doppeltisch-Spinnrad hatte ich gar keine Zweifel, wieder eine besondere Schönheit „zum Leben“ erwecken zu können.
Mit Hilfe meines langjährigen Freundes Jürgen konnte ich im Januar 2024 dieses Rad kaufen: er fuhr extra für mich nach Wentdorf und holte das Spinnrädchen ab, welches ich mir hatte reservieren lassen. Einige Zeit später nahm meine Freundin Sabine es für mich (von Jürgen aus) mit in Richtung Hannover – und so konnte ich das „Häufchen Elend“ eines Abends endlich mit zu mir nehmen…
Lieber Jürgen, liebe Sabine: habt vielen Dank für Abholung und die Mitfahrgelegenheit 🙂 ich geb´ dafür einen aus!
Die nun folgende Prozedur ist bei mir eigentlich immer gleich – ihr dürft Euch das in etwa wie folgt vorstellen: zunächst stelle ich das Rad auf ein altes Laken im Spinnzimmer, nehme mir ein Heißgetränk und mache mir Musik an. Dann schaue ich mir das Rad genauer an, wackele an allen Teilen herum und besehe mir alle Schäden genau. Holzwurmlöcher, fehlende Teile, geborstene Stellen, trockenes Holz, verrostetes Metall und mürbes Leder ernten meist kleine Seuftzer. Wenn ich Tageslicht habe, mache ich Fotos von allen Seiten und den Besonderheiten. Dann fängt der Spaß an: ich zerlege das Rad bis sich auf meinem Laken ein Einzelteilpuzzle befindet. Dann wasche ich alle Teile mit einem Schwamm ab und lasse alles wieder gut trocknen. Manchmal schleife ich auch oder kratze hartnäckiges, verharztes Öl mit meinem Lieblingsmesser vorsichtig ab, entroste und poliere Metallteile, entferne alte Nägel und Haken.
An diesem Punkt sehe ich oft erst, in welchen Farben das Rad einmal lackiert war: an verborgenen Stellen finden sich oft noch intakte Stellen von Beize / Farbe / Lackierungen. Meist dauert es ein wenig, bis ich mich endgültig entscheide, ob ich das Rad „nur“ neu lasiere oder ob ich Farbe/Beize einsetze. Das hängt meist davon ab, wie alt das Spinnrad ist: bei alten Räder möchte ich den Charme des Alters erhalten und keinesfalls den Eindruck erzeugen, es sei neu. Letzteres wirkt einfach unnatürlich, finde ich. Aber einen gepflegter Zustand, der die Vorzüge des Rades auch optisch herausstellt, ohne die individuellen Spuren zu verdecken, ist das Ergebnis, welches ich am liebsten habe. Bei diesem außergewöhnlich kleinen Rad -welches in typisch norwegischer Doppeltisch-Art gebaut wurde- entschied ich mich, einen transparenten Mahagoni-Ton aufzutragen, da ich diesen an einigen verborgenen Stellen entdeckt hatte. Zur Pflege und als seidenmatten Finsh würde ich anschließend noch eine zweite Schicht aus offenporiger, farbloser Holzschutzlasur auftragen.
Außerdem hatte ich beim Reinigen auf der äußeren Radfelge (dort wo der Antriebsfaden läuft) tatsächlich Spuren von Goldfarbe gefunden. An einigen Stellen schien es mir sogar so zu sein, als hätte ich die typischen Überlappungsstellen von Blattgold-Blättern entdeckt! Ich machte ein paar kleine Luftsprünge zur Musik, so freute ich mich!
Der beinerne Zierrat an der Innenfelge und an allen Hölzern war mir schon auf den unscharfen Verkaufsfotos aufgefallen – aber jetzt entdeckte ich noch die beiden Messingringe, die so unauffällig-korrodiert an den schön gedrechselten Gewindehölzern verborgen gewesen waren: wow! Auch die Standhölzer besitzen rund ausgesparte Patten aus Messing, in welchen die Achse sicher liegt. An diesen Teilen putzte ich begeistert eine ganze Zeit herum, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden war. „Wie toll sieht das denn aus!“ freute ich mich immer wieder. Überdies bestärkten mich diese Kleinigkeiten in der Annahme, dass es sich hier mitnichten um ein „Arme-Leute“-Flachsrad gehandelt haben muss. Das Holz ist immer noch wunderbar erhalten, kaum Wurmlöcher, hart und fest bis auf eine Stelle an einem Standbein, welches wahrscheinlich mal länger nass gestanden haben muss. Dieses kleine Stück Holz war etwas mürbe geworden, was aber auch heute immer noch der Standfestigkeit keinen Abbruch tut.
Unter dem Querholz des Spinnkopfes entdeckte ich noch Reste einer aufgetragenen Holzmaserung – ein weiteres Indiz dafür, dass hier bei der Herstellung auf Optik und Qualität geachtet worden war. Das war mit Sicherheit ein teures Spinnrad gewesen! Warum es allerdings so kleine Abmaße hat, kann ich nur vermuten. Denn obwohl es größer aussieht, als es wirklich ist, wurde es nach der typisch norwegischen Art eines Doppeltisch-Spinnrades hergestellt. Sogar die Schraubengewinde, mit welchen das Rad aus dem Winkel gedreht und somit an die Laufrichtung des Spinnkopfes / der Wirteln angeglichen werden kann, wurden hier gebaut. Doch ich musste feststellen, dass die beiden Standhölzer, welche die Radachse tragen, damit gar nicht so weit gedreht werden können, als dass man hier den Winkel des Radlaufes verändern könnte. Zudem sind sie nach all den Jahrzehnten auch immer noch so fest verbolzt, dass sie kein Spiel zulassen bzw. besitzen.
Außerdem ist das Rad so klein, dass die beiden dazugehörigen Spulen (welche leider -wie der Wocken- fehlen) zwischen dem oberen und unteren Tisch gar keinen Platz gefunden hätten. Hier hätte ich auch eigentlich Bohrungen finden müssen, durch die Stäbe hätten gesteckt werden können, um darauf die zusätzlichen Spulen zu hängen. Andererseits gibt es im oberen Tischbrett noch ein schräg eingebohrtes Loch von ca. 15mm Durchmessern, in welchem sicherlich der vermisste Wockenstab steckte. Das bedeutet, dass ich hier ein Flachsrad vor mir habe – und das wiederum bedeutet, dass man nicht unbedingt eine Vorrichtung zum Zwirnen brauchte, denn Flachs wurde als Single / Einzelfaden verwebt. Also, so denke ich mir, gab es vielleicht noch einen Spulenstand, auf den man die vollen Spulen stellte und von wo aus man dann auf eine Haspel umhaspelte.
Nach diesen Entdeckungen und Überlegungen machte ich mich noch daran, die fehlenden Lederteile nachzuarbeiten: am Fußbrett und am hinteren Flügelhalter fehlten die Leder teilweise ganz. Ich musste mir die passenden Stärken zusammenkleben (Holzleim tut auch hier wahre Wunder) und dann zuschneiden. Am vorderen Halter war das Leder arg mitgenommen und notdürftig mit Draht fixiert. Erst habe ich überlegt, auch dieses Leder zu ersetzen, doch dann kam mir ein Gedanke, der darauf gründet, dass ich ja immer möglichst viel Altes und Originales erhalten will.
Kennt Ihr die japanische Kunst, mit der man zerbrochenes Geschirr auf zauberhafte Weise mit wunderschönen, goldfarbigen Klebestellen flickt? Kintsugi, die „goldene Reparatur„ beinhaltet die Philosophie, einen Bruch und eine Reparatur als Teil der Geschichte eines Objekts zu sehen. Sie begrüßt auf wertschätzend-liebevolle Art Fehler und Unvollkommenheiten, anstatt sie zu verbergen. So wird aus einem reparierten Objekt etwas ganz Besonderes… Und das wollte ich für dieses Rad auch umsetzen!
So habe ich letztlich die Bruchstellen der Spule und des Spinnflügels genauso in Goldfarbe gefasst wie die äußere Radfelge. Auch die Wirtel des Spinnflügels ist nun innen goldglänzend, was schön mit der Innenrille des Schwungrades korrespondiert. Das alte Leder, welches die Seite der Spinnöffnung aufnimmt, wurde liebevoll geklebt und anschließend mit einem schönen Golddraht fixiert. Die alten Polsternägel des Trittbrettes wurden von mir durch Neue, goldgesprenkelte ersetzt. Und die alten Einzugshaken bekamen auch einen kleinen Klecks Goldfarbe ab: die eigens dafür gekauften Mini-Messinghäkchen bleiben vorerst noch in der Schublade. Vielleicht halten die Original-Nägelchen ja doch noch etwas länger durch…
Angesponnen habe ich das Rädchen stilecht mit goldgelber Sari-Seide – und konnte mir dabei das freudige Lachen nicht versagen: wie wunderschön sind doch diese alten Schätzchen!
INFOBOX:
Technische Daten „Kleines Doppeltisch-Spinnrad“
Hersteller: Unbekannt
- Gewicht: 4,5 kg
- Höhe der Spinnöffnung: 62 cm
- Durchmesser Einzugsöse / Innenmaß: 7 mm
- Übersetzungsverhältnis 1: ??
- Abmessungen Spinnrad (HxBxT): 75 x 72 x 46 cm
- Raddurchmesser 41,4 cm / 12 Radspeichen
- Einzeltritt mit zweifädigem Antrieb
- helles Holz (vermutlich Buchenholz)
- ursprünglich dunkelbraun / mahagonifarben gebeizt, womöglich in Holz-Imitationstechnik
- breite Messingringe an den Achshölzern
- (Elfen?)-Beinerne Verzierungen
- ursprünglich goldfarbig (evtl. mit Blattgold) ausgelegte Schwungradfelge
- Wocken und weitere Spulen fehlen
- gekauft: Januar 2025 in Hamburg-Wentdorf
- Herkunft unbekannt / mutmaßlich Norwegen
- Alter: vor 1900 / um 1890 vermutet