Raabenwolle

ES.P „Schwedische Ziege“

Dieses wundervolle Rad hat mir die liebe Hanni geschenkt, nachdem sie bei mir spinnen gelernt hat. Es stammt aus der Region Södermanland, aus Mittelschweden – dort wurde es um das Jahr 2018 von Hanni ersteigert. Sie besitzt noch ein zweites, fast baugleiches Rad mit sehr ähnlichen Abmaßen und frappierend ähnlichem Desgin, so dass die Vermutung nahe liegt, regionale Hersteller könnten sie dort gefertigt haben.

Eine überlegende Anmerkung zur Herkunft sei mir an dieser Stelle erlaubt:
Die nachgewiesenermaßen originalen schwedischen Spinnräder, welche ich bisher zu Gesicht bekommen habe, haben tendenziell viel größere Schwungraddurchmesser als meines – auf der bekannten Künstlerverkaufsplattform ET*Y habe ich ein sehr ähnliches Rad aus Estland angeboten gesehen… die Herkunft ist also sicherlich Schweden, doch womöglich ist das Herstellungsland das nahegelegene Estland. Womöglich war es auch in Schweden schick, en Rad aus einem anderen Land als dem eigenen zu spinnen? Man möchte ja immer das außergewöhnliche sein Eigen nennen…

 

Es kam in keinem sehr guten Zustand zu mir, denn es war nicht nur staubig und verschmutzt, sondern geradezu verkrustet. Besonders die Achse, der Knecht und der Spinnkopf waren mit einer trockenen, harzigen Substanz überzogen, die eingetrocknet immer noch kleine Dellen -wie bei einer Gänsehaut- aufwies. Ich vermute, es handelt sich um vertrocknetes Lagerfett, welches im Sommer (z.B. auf einem heißen Dachboden) weder flüssiger wurde und auf die Speichen heruntertropfte und am Knecht herunterlief. Staub bedeckte alles, die kalten Winter trocknete die Substanz aus. Über Jahrzehnte sicherlich. Und vielleicht auch noch länger. Das gesamte Holz war knochentrocken, die Leimverbindungen gelöst, das Leder der Spinnkopfhalterung rissig, die Metallteile verrostet und sogar die Beize verblasst und stellenweise von der Benutzung abgerieben.

Obwohl ich es in seinem Originalzustand in nur einer Stunde spinnbar gemacht hatte, entschloss ich mich doch, es komplett auseinander zu nehmen und zu restaurieren. Der Gesamtzustand war mir zu schlecht… doch ich wollte es auch nicht übermäßig restaurieren. Es sollte nicht „neu“ wirken.

Die Abwägung, ein original altes Rad aus diesem Zustand zu holen, ist immer eine wichtige Entscheidung.
Erhält man ein (spinnfähiges) Rad im Originalzustand kann es mehr wert sein als ein restauriertes…  

Zunächst zerlegte ich das gesamte Rad, dann kratze ich mühsam die alten Dreckkrusten ab, welche bis zu 2mm Stärken aufwiesen. Anschließend schliff ich alles fein ab, entfette und entstaubte die Teile um dann zunächst die schwarze Beize wieder auf die Holzteile aufzutragen, die ursprünglich so eingefärbt worden waren. Nach der Trocknung erhielten alles eine diffusionsoffene Bienenwachs-Holzschutzlasur und dann konnte ich alles weder zusammensetzen, leimen und festziehen. Eine neue Antriebsschnur und neue Lederlager waren zuletzt dran und ich war so gespannt, ob sich die 10 Stunden Arbeit gelohnt hatten – und, was soll ich sagen? Sie haben sich mehr als gelohnt!

Das Rad ist definitiv eine „Spinnradprinzessin“: es spinnt so leise und steht so ruhig dabei, dass es eine Freude ist, sich den feinen Faden auf die kleine Spule aufwickeln zu sehen. Klein Klappern, kein Rappeln. Es schnurrt noch nicht einmal. Fast lautlos spinnt es. Ich bin völlig fix und fertig, denn das schaffen die meisten heutigen Räder nicht!

Die Signatur am Kopfbrett, mehrfach neben dem Stellrad, eingeprägt ist übrigens typisch für diese Art Räder: die sogenannte „Meistersignatur“ lautet „ES.P.“ und ist in Versalien / Großbuchstaben und in einer Serifenschrift (die Buchstaben haben an den „Füßen“ kleine Querstriche) invers mehrfach eingeprägt.

Das Bild links zeigt das Schwester-Rad von Hanni, welches mit P.HEN geprägt ist.

Ob die Anzahl der Prägestempel eine Bedeutung hat, kann ich nicht sagen. Meines hat -so wie Hannis Rad auch- 5 Stempelprägungen: drei links und zwei rechts vom Stellknauf.

Hanni schätzte das Alter der kleinen Schwedin auf gut 100 Jahre und ich war mir zunächst nicht sicher, ob das nicht sogar stimmen könnte. Also hab ich zunächst versucht, das Logo zu bestimmen, aber das Netz gab nichts her. Was mir auffiel war, dass am ganzen Rad nur zwei winzige Nägel verbaut worden sind: gut 1,5 cm lang mit einen Kopfdurchmesser von nur 0,3 cm. Und sie sind definitiv von Hand geschmiedet worden! Ich hab mal nachgeforscht: die ersten Nägel konnten bereits 1777 industriell hergestellt werden – doch soll es noch gut 100 weitere Jahre gedauert haben, bis sie die handgeschmiedeten Nägel in den Industrieländern weitestgehend abgelöst hatten. Nehmen wir mal an, im weitläufigen, dünner besiedelten Mittelschweden hat es noch weitere 50 Jahre gedauert, bis dort die Industrialisierung viele Handwerke verdrängte. Dann wäre das Rad zwischen 1877 und 1927 hergestellt worden. Und daher heute (2023) zwischen 96 und 146 Jahren alt. Völlig irre, sich das vorzustellen, oder?

Es schnurrt jedenfalls ganz fein, klappert und rappelt nicht (da kann sich so manches neu-moderne Rad hinter verstecken!) und ist (m)eine echte Spinnradprinzessin!

 

Technische Daten:

  • Baujahr vermutlich zwischen 1877 und 1927 / Region Södermanland, Mittelschweden
  • Hersteller am Kopfbrett eingeprägt „ES.P.“
  • Antriebsrad 56cm Durchmesser
  • Achsstange in dünnen Kupferplättchen gelagert
  • Korpus vermutlich Fichtenholz, ausschließlich mit Holzbolzen verzapft
  • Spulenkapazität 80 Gramm
  • Antrieb zweifädig einfädig per Einzeltritt
  • 2 Übersetzungen (an der Wirtel des alten Standardspinnflügels)
  • Einzugsöffnung 4mm Durchmesser
  • zusätzlicher Spulendorn für langen Auszug vorhanden
  • Gewicht ca. 5 kg